Lexikon | Krieg in den Bergen

Eine einsame Wache auf einem Dolomitgipfel.

Ein großes Lawinenunglück im Höhlensteintal.
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Krieg in den Bergen
Ursachen und WirkungenBeginn des 20. Jahrhunderts in den
Dolomiten. Großartige Hotels werden innerhalb kürzester Zeit aus dem
Boden gestampft. Prospekte und Werbematerial zeigen das Paradies auf
Erden. 1903 schreibt der englischsprachige Touristenführer “South-Tyrol” von
John Stoddard von “Bozen - der halb-italianisierten Metropole von
Südtirol” und auch bei der Stadt Trient wundert er sich, “dass das
Hauptdenkmal von Trient nicht einen berühmten Österreicher
darstellt, sondern ein Bronzedenkmal den großen Florentiner Poeten
Dante ehrt.“ Dieses Tirol ist im Habsburgerreich wie ein Staat im
Staat. 1511 hatte Kaiser Maximilian in seinem berühmten Landlibell
den Tiroler Schützen die Verteidigung ihrer Heimat übertragen und
damit ein störrisches, aber immer loyal ergebenes Land wichtig
gemacht und zufrieden gestellt.
Diesseits und jenseits einer mächtigen Gebirgskette, der Alpen, wachte
über die Jahrhunderte ein Gebirgsvolk, welches sich noch dazu in drei
unterschiedlichen Sprachen verständigen musste, darüber, dass Kaufleute
und Reisende ungehindert über den niedrigsten Alpenübergang, den
Brenner, sich bewegen konnten, feindliche Heere aber gegebenenfalls
sofort aufgehalten würden. Eigenartigerweise hatte sich gänzlich
unabhängig davon weiter im Osten genauso ein ähnliches Staatengebilde
zusammengeschmiedet, das sich im Süden wie im Norden in den gewaltigen
Alpenabhänge eingeigelt hatte und sich ähnlich heimatverbunden, nicht
unterordnend und stolz auf die eigenen Traditionen, zeigte: die
Schweizer.
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Mit einem ähnlichen Sprachwirrwarr an rätoromanischen,
italienischen, französischen und deutschen Dialekten - untereinander verstritten, nach außen wie ein Bollwerk vereint - stemmten sie sich
gegen jede Einmischung von außen.
Diese gegenseitige befruchtende Streitkultur hatte beide, die Tiroler
und Schweizer, zu höchst eigensinnigen Patrioten gemacht, welche früh
schon eigene Selbstverwaltungssysteme den oberen Herren abgetrotzt
hatten. Doch es gab einen Unterschied: Die Schweizer hatten sich zu
kleinen isolierten und selbstständigen Kantonen zusammengerauft und ein
lockeres Staatengebilde geschmiedet, die Tiroler, mit annähernd einer
Million Einwohner waren nur Teil eines Riesenreiches. Das
Habsburgerreich war mehr aus Zufall - durch Heirat und Erbschaft,
glückliche Umstände auch nach unglücklichen Kriegen - zu einem Staat
geformt worden, doch niemals zu einer einheitlichen Volksgemeinschaft.
Die Lombardei (1859) und das Veneto (1866) hatte das Habsburger Reich
mittlerweile an das immer schneller aufstrebende Italien verloren, aber
noch immer gehören große Gebiete wie Triest, Görz, aber auch das
Trentino, zu Österreich. "Terre irredente" zu „befreiende Länder“
schwört im Jahr 1877 der aus Neapel stammende Patriot Matteo Renato
Imbriani am Grab seines Vaters, „Irredentist“ verunglimpflicht sofort
ein Wiener Journalist dieses Bestreben und macht den Ausdruck hoffähig.
Ungefähr 40% der Einwohner von Großtirol sind Italiener, der Rest
Deutsche und einige Prozent Ladiner. Und diese italienischsprachige
Bevölkerung fordert nun immer vehementer eine Besserstellung, ohne dabei
ernsthaft an eine Teilung des Landes zu denken. Doch dazu kommt es trotz
vieler gut gemeinter Versuche nur zögernd: Einmal ist es die Wiener
Staatsregierung, welche die Wünsche der Italiener überstimmt, dann
wieder ist es die Mehrheit des Landtages in Innsbruck, welche die
Anliegen sabotiert. Die Ladiner dagegen, wohlhabend geworden durch den
überfallartig aufgetauchten Tourismus, gehören zu den loyalsten
Vertretern des Kaisers. 1882 verbindet sich allerdings Italien mit
Österreich und Deutschland zum Dreibund als militärische Allianz gegen
die anderen dominierenden Völker wie Frankreich, Russland und
Großbritannien. Um die mächtigen Partner nicht zu verärgern, bewegen
sich die Pläne eines italienischen Staates anhand seiner natürlichen
Sprachgrenzen nicht mehr auf politischer Ebene weiter. Trotzdem brodelt
es im Untergrund, schlagen sich Klerus und einflussreiche Männer auf die
Seite der Aufwiegler.
Etwa um die gleiche Zeit werden im Trentino zwei charismatische Männer
geboren, welche die Geschicke nicht nur der Region, sondern ganz Europas
in Zukunft entscheidend beeinflussen sollten: Cesare Battisti
(1875-1916) und Alcide Degasperi (1881-1954). Ihr Lebensweg gleicht sich
anfänglich, ihr Ende nicht. Beide studieren in Österreich, sprechen
perfekt deutsch, kämpfen darum, dass Kaiser Franz Josef I. eine
italienischsprachige Universität genehmigt, werden Zeitungsherausgeber
und ziehen beide als Abgeordnete in das Parlament in Wien ein. Dann
kommt der Erste Weltkrieg. Battisti kämpft an vorderster Front an der
Seite Italiens, Degasperi hält sich neutral, fühlt seine Vision eines
Italiens bis zur Salurner Klause durch das Entgegenkommen Österreichs
erfüllt. Battisti wird gefangen genommen und entwürdigend liquidiert,
Alcide Degasperi dagegen wird unter Mussolini ins Gefängnis gesteckt,
steigt nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch wie ein Komet auf, wird
Italiens Ministerpräsident, und später einer der großen Former des
vereinten Europas.
Um 1900 werden die Spannungen innerhalb des Österreichisch-Ungarischen
Kaiserreiches immer größer: Kroaten, Russen, Slowenen, Ungarn, Deutsche,
Italiener, Rumänen, Serben und noch viele Volksscharen wollen mit allen
Mitteln eine Veränderung der politischen Verhältnisse. In Tirol reagiert
die deutschsprachige Mehrheit mit immer größer werdenden Misstrauen
gegen die Minderheiten, manche deutsche Wortführer fordern sogar das
Verbot italienischer Dorfnamen. Überall gärt es im zerfallenden
Habsburger Reich und selbst immer größere Zugeständnisse reichen nicht
aus, um die Völkerscharen zu beruhigen. Zwar entzweit die Forderung nach
einem „Trentino den Trentinern“ Tirol, aber nicht das Wiener Parlament.
Es ist mehr ein zaghafter Hilferuf nach mehr Autonomie im Habsburger
Reich, keinesfalls aber wird Tirol zum Auslöser jenes Flächenbrandes,
der bald alles überfahren sollte.
Der Krieg kam, weil er so kommen musste, von den verschiedensten Seiten
und aus den unterschiedlichsten Überlegungen gewollt war, und sollte für
alle nicht länger als eine Woche dauern, höchstens aber bis Weihnachten
1914. Am 28. Juni 1914 erschießt der serbische Nationalist Gavrilo
Princip das österreichische Thronfolgerpaar Franz Ferdinand und seine
Gattin Sophie. Ein unerfüllbares Ultimatum folgt, es ist der Beginn des
bis dahin größten kriegerischen Flächenbrandes der Welt.
Noch verhält sich Italien ruhig, auch wenn vieles darauf hindeutet, dass
diese immer stärker werdende Nation danach dürstet, Jahrhunderte der
Erniedrigung abzuwerfen. Inzwischen verbluten schon die Männer der
Dolomitenregionen in Galizien. Die Trentiner und Ladiner stellen das
stärkste Kanonenfutter dar, von ihnen glaubt man, sie seien am wenigsten
treu zum Habsburger Reich eingestellt. Doch dann, im Mai 1915 wird etwas
für die Kriegsgeschichte Neues geboren: Der Hochgebirgskrieg in Fels und
Eis. Die Entente um Frankreich und England hatte Italien mehr
Zugeständnisse gemacht, und das hatte den Ausschlag gegeben. Zwar hatte
Hannibal 2.000 Jahre vorher schon einmal die Alpen durchquert, um den
Römern in den Rücken zu fallen, aber dass man in diesen schroffen
Steilwänden - teilweise über 3.000 m gelegen - auch Krieg führen konnte,
hätte niemand für möglich erachtet. Man wollte es auch gar nicht. Das
Bestreben Italiens lag eigentlich darin, schnell über die Pässe und
durch die Täler in das schwächelnde und wankende Reich nach Wien zu
stoßen.
Doch es kommt alles anders: Durch ein verhängnisvolles Zögern,
vielleicht auch dadurch bedingt, dass Italien im Mai 1915 hastig und
übereilt in den Krieg eingetreten war, wird von Beginn an die
Möglichkeit vertan, die überraschten und noch nicht organisierten
österreichischen Truppen zu überrollen. Denn rasch organisieren sich die
Tiroler Standschützen und beginnen, ortskundig wie sie sind, die
strategisch günstigsten Gipfel und Linien zu besetzen. Mit einem Schlag
stehen so 50.000 zwar schlecht ausgerüstete greise wie jugendliche
Verteidiger, davon 38.000 Standschützen und 12.000 Freiwillige Schützen
zur Verfügung, mit denen niemand gerechnet hatte. Zwar sind ab nun die
Dörfer dieser Gegenden ihrer Männer beraubt, doch schnell wachsen zum
Großteil die Frauen, Kinder oder Alten in ihre Aufgabe hinein,
übernehmen die Feldarbeit, wobei sie sich darüber hinaus noch zusätzlich
darum kümmern, dass der Nachschub an Nahrungsmitteln und anderen Dingen
des Lebens an die Front nicht zum Erliegen kommt. Über die ganze
Grenzlinie ziehen sich vom Tonale, über Riva, Lavarone, Tre Sassi,
Landro, Sexten, bis nach Kärnten eine Reihe von mittlerweile zwar
teilweise veralteten Befestigungsanlagen und Sperrforts, welche dazu
dienen sollten, etwaige italienische Angriffe abzuwehren. Sie sind schon
viele Jahre vorher, wohl in Erwartung eines doch nicht zu haltenden
Freundschaftsvertrages und eines möglichen Krieges zwischen
Österreich-Ungarn und Italien errichtet worden.
Ohne zu ahnen, was auf jeden einzelnen zukommt, beißen sich alsbald die
Kämpfenden in fruchtlosen Geländekämpfen fest, und igeln sich im Laufe
des Krieges immer mehr in gut ausgebaute Stellungen ein. Das Ansinnen
der Italiener, als Angreifer Österreich zu überrollen, wird immer mehr
zu einer schwer wiegende Bürde, die zwangsläufig dazu führt, dass die
italienischen Truppen - zumeist ziellos aus Taglöhnern und
Bauernknechten rekrutierte Soldaten - den Kürzeren ziehen müssen. Nicht
etwa, dass es sich bei den italienischen Alpinis oder Bersaglieris um
schwache Gegner handelte. Ihre Unerfahrenheit im Gelände machen sie
teils durch Mut – sich zum ersten Mal auf ihre eigene starke Nation
besinnend – teils durch die schiere Masse der in den Kampf geworfenen
Soldaten, wett, was dazu führt, dass die Opferzahlen Italiens im
Gegensatz Österreichs unendlich viel höher werden. Nicht einberechnet
sind hier noch jene Toten, welche die Natur forderte: Durch Lawinen,
Felsstürze, durch Mangel an Nachschub aufgrund der Wetterunbilden oder
sonstige Naturkatastrophen, ließen in diesem Krieg, von vielen auch „der
große Krieg – la Grande Guerra“ genannt, mehr Menschen ihr Leben als
durch die eigentlichen Kampfhandlungen. Man schätzt ihre Zahl nur in
dieser Gegend auf 60.000.
Cortina d'Ampezzo, die heimliche Dolomitenhauptstadt, war aus
strategischen Gründen den Italienern kampflos überlassen worden, ein
Geschenk, das die einziehenden italienischen Truppen in maßlose Euphorie
versetzte und ihre Siegeszuversicht einheizte. Doch schnell kommt die
grausame Ernüchterung. Es gibt kein Weiterkommen mehr, keinen erhofften
schnellen Durchmarsch nach Wien. Zwar stirbt schon zu Kriegsbeginn, am
4. Juli 1915, der bekannte Sextner Bergführer und trotz seines hohen
Alters noch bei den Standschützen mitkämpfende Sepp Innerkofler am
Paternkofel. Was nun aber folgt, gleicht eher einem trojanischen Ringen,
denn einem modernen Feldzug.
Dieser Krieg hier in den Dolomiten blieb in Erinnerung wegen der vielen
waghalsigen Aktionen, ob der Erstürmung der Sextner Rotwand durch
italienischen Truppen oder die Eroberung der Serauta-Scharte im Gebiet
der Marmolata. Er setzte sich in den Seelen der Menschen fest wegen der
massiven Sprengungen vieler Bergwände, ob des Col di Lana, des Lagazuoi
oder des Schreckensteins und natürlich wegen des Kriegswinters 1915-1916
mit seinen Tausenden von Lawinentoten. Teilweise bis zu zwölf Meter
Schnee fielen, an die 300 Tote kommen bei einem einzigen Lawinenunglück
am Gran Poz bei der Marmolata ums Leben, fast gleichviel bei einer
verhängnisvollen Lawinenkatastrophe im Höhlensteintal. Rund um die Drei
Zinnen kämpft die als Mann verkleidete Viktoria Savs, ein kleines
zierliches Mädchen, welche es sich nicht nehmen läßt, ihren Mann zu
stellen. Sie wird wegen ihrer Tapferkeit ausgezeichnet, schwer
verwundet, wobei man erst im Lazarett aufmerksam wird, mit wem man es zu
tun hatte. Anton von Tschurtschenthaler verharrt am Col di Lana eisern,
auch noch am 17. April 1916 als dieser von den italienischen Truppen in
die Luft gesprengt wird. Dieser Berg geht als Blutberg in die Geschichte
ein. Italo Lunelli, Giovanni Sala und Antonio Berti besetzten in einer
waghalsigen Aktion die Sentinella-Scharte bei der Sextner Rotwand. Schon
hier erkennt man, dass die Bewohner der unter österreichischer
Herrschaft stehenden italienisch sprechenden Sprachgebiete im Trentino
hin- und her gerissen sind, auf welche Seite sie sich schlagen sollten.
Der Österreicher Italo Lunelli kämpfte auf der Seite Italiens unter dem
Namen Raffaele Da Basso. Gleichfalls misstrauisch werden von den
österreichischen Truppen die Ladiner beäugt, um von den italienischen
Angreifern wegen ihrer Treue zu Österreich kopfschüttelnd betrachtet zu
werden.
Berühmt wird in diesem Krieg das Gletschermassiv der Marmolata. Nach
verlustreichen Kämpfen hat der österreichische Ingenieur Leo Handl die
geniale Idee, die Gletscher mit Stollensystemen zu erschließen. Ganze
Städte im Eis entstehen in der Folge. Nachschub kann dadurch ungehindert
in die Höhe gebracht werden, den Unbilden der Natur ist man von da an
weniger stark ausgeliefert. Noch vor dem Bau der Eisgalerien hatte man
begonnen die harten Felsen der Dolomiten hunderte von Kilometern zu
untertunneln. Ob am Paternkofel, an der Tofana oder am Lagazuoi, alsbald
zogen sich im Innern der Berge vielfach verzweigende Stollensysteme
hindurch. Ein Durchbruch gelang auch hier den Italienern nirgends, die
Niederlage bei Karfreit führte sogar dazu, dass dem gesamten
Dolomitengebiet ein dritter Kriegswinter erspart blieb.
Von der Valsugana bis zum Etschtal und darüber hinaus zog sich eine im
Dreieck aufgebaute Kampflinie, mit den wichtigen Städten Trient und
Bozen im Hintergrund, wo sich die Schrecken des Krieges in grauenhafter
Weise offenbarten. Hier befand sich die Hölle des Monte Pasubio. In
diesem Gebiet hatten Italiener wie Österreicher starke Festungswerke
erbaut – für die Ewigkeit gedacht – doch bei den ersten Kampfhandlungen
zog man sich liebend gerne in wesentlich sicherere Stellungen in die
eilig heraus gesprengten Felshöhlen zurück. Den Werken Verle, Lusern,
Geschwendt, Cherle und Serrada auf österreichischer Seite, standen die
italienischen Sperrforts Verena, Campolungo, Casa Ratti und Campomolon
gegenüber. Die Hochfläche der Sieben Gemeinden sollte dazu dienen,
eventuelle Durchbrüche von Seiten der Italiener ins Etschtal, und
umgekehrt nach Südtirol, zu verhindern.
Und noch eines zeichnet dieses Gebiet aus: Hier, von den Hochflächen der
Sieben Gemeinden, startet im Frühjahr 1916 die so genannte
„Strafexpedition“. Es waren nicht die Österreicher, die diesen Namen
erfanden, der Name wurde zur Abschreckung von den Italienern geprägt.
Ziel sollte es sein durch die Valsugana durchzubrechen und tief nach
Italien vorzustoßen. Es war der Gegenangriff Österreich-Ungarns, die
Rache für den hinterlistigen Partner, der in ihren Augen den
Freundschaftsvertrag schändlich aufgekündigt hatte. Mit Hilfe deutscher
Truppen sollte er gelingen, und wurde trotzdem zum Fiasko. Denn bei
Verdun verbluteten indessen schon die Armeen und die deutsche
Heeresleitung hatte dort alle Not, ihre sterbenden Truppen mit frischem
Menschenmaterial aufzufüllen, während in Russland General Brussilow mit
einer gewaltigen Offensive die Ostfront zum Taumeln bringt. Sang- und
klanglos geht diese „Strafexpedition“ im Juni 1916 zu Ende, weil auch
die österreichischen Truppen anderswo dringender gebraucht wurden. Am
16. Juni 1916 erteilt Generalstabschef Conrad von Hötzendorf den Befehl
zur Einstellung der Angriffe, am 18. Juni sogar den zum Rückfluten zu
jenen gut ausgebauten Stellungen, von wo aus die Offensive gestartet
war.
Die Stellung von Carzano in der Valsugana ging in die Geschichte dieses
Krieges ein, weil es den Italienern dort gelang – einerseits durch List,
andererseits durch den Verrat des tschechischen Oberleutnants Pivko und
einiger seiner Landsleute – dieses Sperrfort zu überwältigen. Die
Italiener trugen österreichische Uniformen, kannten die deutschen
Losungsworte und konnten so, den Überraschungsmoment ausnützend,
eindringen und sich festsetzen. Erst nach erbitterten Kämpfen gelingt es
den österreichischen Truppen, die feindlichen Verteidiger wieder
hinauszuwerfen. Überall toben in diesem Gebiet harte Kämpfe. Mit
insgesamt 1.500 Geschützen greifen am 10. Juni 1917 die Italiener die
Stellungen von Ortigara am Hochplateau der Sieben Gemeinden an. Der
Durchbruch gelingt auch hier nicht.
Der Pasubio, 2250 m hoch, ragt mit seinen beiden Hauptgipfeln wie eine
Festung heraus. Wer ihn restlos besaß, konnte über das Etschtal von
Trient bis nach Verona einsehen und große Gebiete der norditalienischen
Voralpenzone kontrollieren. Italiener und Österreicher teilen sich nach
erbitterten Ringen alsbald die beiden Gipfel auf. Mit der größten
Explosion dieses Alpenkrieges wurde er von den Österreichern in die Luft
gesprengt. 2.000 Italienische Soldaten verloren dabei im Jahr 1917 ihr
Leben. Seine Kalkfelsen boten keine Möglichkeit, sich leicht zu
verschanzen, jeder Schützengraben musste mühsam in den Stein gesprengt
werden. Unerbittlich zogen Winde und Stürme über den Pasubio hinweg,
dazu gab es in diesen Jahren die strengsten Winter seit
Menschengedenken. Dann, ab November 1917 bis zum Kriegsende, wurde der
Monte Pasubio als Berg des Schreckens durch den Monte Grappa abgelöst.
Nach der vernichtenden Niederlage bei der 12. Isonzoschlacht lag Italien
danieder, die Truppen fluteten ziellos zurück, ungeheure Mengen
Kriegsgeräte zurücklassend, und mussten erst mühsam durch die Mithilfe
englischer und französischer Unterstützung wieder auf Vordermann
gebracht werden. Die furchtbaren lebensfeindlichen Gebirgsgipfel hatten
sich weiter entfernt, nun kam der den italienischen Eignungen mehr
entsprechende Flachlandkrieg hinzu.
Schon in den ersten Novembertagen 1917 setzten sich die aus den
Dolomiten abgezogenen kampferprobten Alpinis und Bersaglieris am Monte
Grappa, dem Asalone und dem Monte Tomba fest. Und sie konnten trotz
dauernder Sturmangriffe der österreichischen Truppen um keinen Meter
zurückgedrängt werden, eher im Gegenteil, die Italiener setzten zu
unerwarteten Vorstößen an. Wenn es um die eigene Heimat ging, zeigten
wie zuvor die Tiroler Landesschützen, auch die Italiener ihre wahre
Kampfkraft und wuchsen über sich hinaus.
Das Ende kam unerwartet und eigenartig. Im Oktober 1918 drängen die
wieder nach der verheerenden Niederlage bei Karfreit neu gesammelten
italienischen Truppen, unterstützt von den Alliierten, zur
Entscheidungsschlacht. Das österreichische Heer steht mit dem Rücken zur
Wand, ist am Ende der Kräfte. Nun geht es Schlag auf Schlag: Am 30.
Oktober 1918 bittet Österreich um einen Waffenstillstand. Das Trentino
wird sowohl über den Tonalepass, als auch vom Monte Grappa in eine
Zangenbewegung genommen. Am 2. November erklärt sich Italien zu einem
Waffenstillstand mit Wirkung 3. November Mitternacht bereit. Davon
werden in aller Eile die österreichischen Truppen in Kenntnis gesetzt.
Doch dann sickert durch, dass der Waffenstillstand erst ab dem 4.
November 15.00 Uhr gelte. Tausende zurückflutende Österreicher geraten
in Kriegsgefangenschaft. Das Kaiserreich Habsburg bricht zusammen, eine
neue Weltordnung entsteht.
Italien, zu den Siegernationen gehörend, mit einem hohen Blutzoll als
moralisches Guthaben, muss befriedigt werden. Eine Abtretung von
Gebieten innerhalb der natürlichen Sprachgrenzen ist nun kein Thema
mehr, die aufstrebende Nation will sich bis zum Brenner und weit in
jugoslawisches Hinterland ausdehnen. Und jetzt kommt es zu einer
Veränderung, die 2.000 Jahre Geschichte bis hin zur Zeit der Römer
umstößt. Die Dolomiten gehören nach dem Friedensvertrag von St. Germain
1919 – ausgenommen dem kleinen Osttirol - zu dem als Abkömmling des
römischen Reiches fühlenden Staat Italien. Nun rächt sich das was, die
Schweiz oder der Winzling Liechtenstein gewagt hatten, und wofür sich
mehrmals die Gelegenheit geboten hätte: Ein selbstständiges Tirol
inmitten von Europa aufgebaut auf drei Kantone als Grenzhüter zwischen
Norden und Süden.
Aus:
Michael Wachtler
Menschen im Krieg
Aus:
Michael Wachtler – Günther Obwegs
Krieg in den Bergen
Aus:
Michael Wachtler – Paolo Giacomel – Günther Obwegs
Dolomiten – Krieg, Tod und Leid
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