Lexikon | Der Name der Dolomiten

Dolomieu:
Dèodat de Dolomieu als Vierzigjähriger 1789 in Rom, porträtiert durch
die Schweizer Malerin Angelica Kauffmann. Es ist das einzige
überlieferte Bild des französischen Entdeckers.
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Der Name der Dolomiten
Eine eigenartige GeschichteUm 1800 werden die Dolomiten
plötzlich zum Mittelpunkt weltweiter geologischer Forschung, und das
aus vielerlei Hinsicht. Es gibt erbitterte Gelehrtenstreitigkeiten,
staunenswerte Zufälle, Irrwege, aber genauso großartige
Entdeckungen, welche uns auch heute noch beeindrucken.
Italiener, Deutsche, Engländer und Franzosen, die gesamte europäische
Fachwelt, stürzen sich urplötzlich in dieses Gebiet und die Ergebnisse,
wie ein Tagebuch in den Felsen ersichtlich, bringen nach unendlich
langen Diskussionen und Intrigenspielen die Forschung um Meilen weiter.
Zuerst allerdings gilt es den schwersten Brocken auf diesem Weg zu
überwinden: Gott. Er hatte alles geschaffen, an sieben Tagen vor einigen
wenigen tausend Jahren. Und dieser Sündenfall machte selbst dem
aufgeklärtesten Forscher zu schaffen. Wie durfte man von Millionen
Jahren reden, wenn in der Bibel die Zeitdimensionen zum Nichts
geschrumpft worden waren?
Einer der ersten der dieses Dogma zu überwinden beginnt, ist der
Veroneser Gelehrte Giovanni Arduino. Er ist ein Genie, und doch hätte er
es in der Hand gehabt weit mehr zu schaffen, doch dazu fehlt ihm das
letzte Quäntchen Glück und wohl auch etwas Selbstvertrauen. 1714 kommt
er in Caprino bei Verona auf die Welt. Er wendet sich der Geologie zu,
wird Bergwerksdirektor im Trentino, der Lombardei und in der Toscana,
dann Professor für Mineralogie in Padua. Von einer seiner
Entdeckungen zehren wir auch heute noch.
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Beim Betrachten der verschiedensten
Schichten fällt ihm auf, dass die untersten früher abgelagert sein
müssen, als die obersten. Er beginnt sie einzuteilen. Leider offenbart
ihm sein Studiengebiet, das Veneto, zumeist nur Schichten, welche
geologisch gesehen erst vor Kurzen abgelagert wurden, aber immerhin. “Ordine
quaternario”, nennt er die allerjüngsten, die Ebenen, die
Überschwemmungsbereiche, die Sande. In seinem “ordine terziario” finden
sich schon Kalke, Tone und auch schon versteinerte Meeresmuscheln. Noch
älter ist das “Ordine secondario”, die Alpen, feste Kalkfelsen,
Vulkanausbrüche, und am Ende kommt der “ordine primario”, als tiefste
Schichten, der Sockel der Berge, die leblosen Felsen. Dies alles teilt
er im Jahre 1759 seinem Freund und Naturforscher Vallisnieri (1708-1777)
in einem Schreiben mit. Das Quartär und Tertiär haben sich als
Bezeichnung bis in die Jetztzeit erhalten, sein Sekundär und Primär
umfassten einfach zu große Zeiträume und wurden in der Folge in
Kambrium, Devon, Karbon, Trias gesplittert. Immerhin bringt Giovanni
Arduino diese stratigraphische Einordnung einen Platz im Olymp der
Geologen. An einer anderen Entdeckung allerdings scheitert Arduino Jahre
später unglücklich, vielleicht auch durch Selbstverschulden.
Noch schlimmer aber ergeht einem anderen seiner genialen Zeitgenossen
durch Intrigenspiel und Neid. Am 13. Juni 1723 wird in Cavalese im
Fleimstal Antonio Scopoli geboren. Er ist der erste in der Reihe einer
langen Liste hervorragender Köpfe, die im Trentino wirken sollten. In
die Geschichte wird Scopoli als jener Naturwissenschaftler eingehen, dem
der viel berühmtere Lazzaro Spallanzani, Direktor des Naturmuseums in
Pavia, einen der bösartigsten naturwissenschaftlichen Streiche
unterjubelt: Den „Physis intestinalis“, jenen neuen und sonderbaren
Wurm, der in den Mägen der Frauen sein Unwesen treiben sollte.
Noch am 5. Juli 1785 schreibt Scopoli voll Freude und Genugtuung: „Sie
brachten mir einen einzigartigen Wurm, der von einer Frau, kurz bevor
sie ein Kind gebar, ausgespuckt wurde. Dieser gehört zu einer neuen Art,
die bisher von niemandem erkannt, geschweige denn vorher beschrieben
wurde. Ich nenne ihn Physis intestinalis.” Zwei Jahre später muss er
sich zähneknirschend für seine voreilige Publikation entschuldigen. Man
hatte ihm die manipulierte Speiseröhre eines Kükens untergejubelt. Als
Rache für einige, in den Augen von Lazzaro Spallanzini beleidigende
Aussagen. Antonio Scopoli ist einer der letzten
Universalwissenschaftler. In Trient besucht er das Gymnasium, studiert
Medizin in Innsbruck, kehrt aber bald nach Trient zurück und
interessiert sich für Botanik, um dann über die Steiermark nach Wien zu
gelangen. Alsbald ist er in Slowenien, dann in Ungarn, um ab dem Jahr
1777 in Pavia zu wirken, wo er elf Jahre später verbittert, verhöhnt und
ausgelacht, dabei noch fast erblindet, stirbt.
Aber nochmals zurück zum großen Geologen Giovanni Arduino. Im Jahr 1779
veröffentlicht er in Venedig ein dünnes Büchlein mit dem Titel „Osservazioni
chimiche sopra alcuni fossili“ (Chemische Beobachtungen einiger
Gesteine). Er beschreibt dort in einer kurzen Abhandlung eher nebenbei
ein in den Vicentinischen Berge in der Nähe von Schio gefundenes
Mineral. Arduino hatte es mit Salzsäure behandelt, festgestellt dass es
sich nicht um Kalk handelte und deshalb weitere Analysen angefertigt. Er
ordnet das Gestein als eine unbekannte Marmorart ein, findet es aber
nicht einmal für notwendig, dem eigenartigen Gestein einen Namen zu
geben.
Mehr Selbstvertrauen hat zehn Jahre später, 1789, ein französischer
Adeliger mit Namen Deodat de Dolomieu. Er findet genau das gleiche
Gestein, beträufelt es mit Säure, stellt fest, dass es der Wissenschaft
unbekannt ist und lässt dies Mineral nach seinem Namen benennen.
Dolomit. So geht Giovanni Arduino zwar als hoch geehrter „Vater der
italienischen Geologie“ in die Geschichte ein, die Anerkennung als
Entdecker des Dolomits blieb ihm jedoch versagt. Als Giovanni Arduino
1795 stirbt, beginnt dieses Mineral einen großartigen Siegeszug
anzutreten. Die Entdeckung des Minerals Dolomit und der Werdegang zur
Benennung eines ganzes Gebietes gehören zu jenen Geschichten der
Menschheit, wo der Zufall, Intrigen und Anekdoten am Ende zu etwas
führen, das von Niemanden weder geplant noch voraussehbar war.
Am 23. Juni 1750 wird im französischen Ort Dolomieu der französische
Adelige Dieudonné-Silvain-Guy-Tancrède de Gratet de Dolomieu geboren.
Der unglückliche Ausgang eines Duells bringt ihn schon in jugendlichen
Jahren ins Gefängnis. Er wird zu lebenslanger Haft verurteilt und nur
durch die Beziehungen seiner Freunde, sowie von Papst Klemens XIII. nach
wenigen Monaten aus dem Kerker entlassen. Früh interessiert sich
Dolomieu für die Naturwissenschaften. Mit 26 Jahren durchstreift er halb
Europa, wobei er sich für vielfache Phänomene begeistert. All die
Forschungen des Autodidakten, der auch in mondänen, sowie politischen
Kreisen seinen Einfluss geltend macht, tragen ihm sogar die
Mitgliedschaft im „Institut de France“, der berühmten französischen
Akademie, ein. Mitte 1789 reist Dolomieu mit seinem Schüler Fleuriau de
Bellevue durch Tirol. An verschiedenen Stellen, schon in der Nähe des
Brenners, sowie aufgelagert auf den Porphyr zwischen Bozen und Trient
finden sie eine merkwürdige Gesteinsart, die dem Kalk vollkommen
gleichsieht, beim Beträufeln mit Salzsäure aber nicht aufbraust. Im Juli
1791 erscheint im „Journal de Physique“ ein aus Malta an den
französisichen Botaniker Picot de la Peyrouse gerichteter Aufsatz,
welcher sich mit einer neuen Kalksteinart auseinandersetzt. Auf Anfrage
von Nicolas de Saussure, Sohn von Horace Benedict de Saussure, des
Erstbesteigers des Mont Blanc und selbst fachmännisch arbeitender
Mineralogen, lässt er diesem am 31. Oktober 1791 insgesamt zwölf Proben
zukommen.
Dolomieu schlägt vorerst den Namen „Tyrolensis“ vor, geht aber davon ab,
weil er erkennt, dass das neu entdeckte Gestein nicht nur in Tirol
anzutreffen ist. Im gleichen Atemzug schlägt er dann den Namen Saussurit
zu Ehren des Vaters von Nicolas de Saussure vor. Im März 1792 erscheint
dann im „Journal de Physique“ ein Artikel Saussures unter dem Titel
„Analyse de la Dolomie“, der so indirekt die Namensgebung vorwegnimmt.
Obwohl dieses nun detailliert beschriebene
Kalzium-Magnesium-Doppelkarbonat schon früher mit einer Anzahl von
Bezeichnungen, die von „Spat“ über „Perlspat“ reichen, bekannt geworden
war, beginnt sich dieser Name durchzusetzen. Dolomieu höchstpersönlich
ist der erste, der diese neue Bezeichnung stolz anwendet. 1794 führt
Richard Kirwan die neue Art als eigenständiges Mineral ein. Doch dies
ist erst der Beginn eines langjährigen Kampfes um die Einführung des
Namens als Gestein und Gebirge.
Inzwischen wendet sich Dolomieu anderen Steckenpferden zu: Er wird
glühender Anhänger von Napoleon Bonaparte und steigt in die Politik ein.
1798 nimmt er mit Napoleon Bonaparte am Ägyptenfeldzug teil, was sich
alsbald als schwerwiegender Fehler herausstellen sollte. Bei seiner
Rückreise erleidet Dolomieu bei Tarent Schiffbruch. Er wird gefangen
genommen und in Sizilien als Rache für längere Zeit unter unmenschlichen
Bedingungen im Gefängnis gehalten. Als kranker Mann kommt er 1801 wieder
frei, gerade früh genug, um vor seinem Tod noch eine letzte Alpenreise
unternehmen zu können. Am 16. November 1801 stirbt Dolomieu, 51-jährig.
Es sollte der erste Anstoß zur Erforschung dieser Gegend sein, die in
den darauf folgenden Jahrzehnten zu einem Ansturm ausarten sollte.
Leopold von Buch, einer wohlhabenden Aristokratenfamilie entstammend und
ausgebildet in naturwissenschaftlichen Fächern in Berlin und Freiberg,
ist nach dem Ableben des eben verstorbenen Gottlob Werner der
bedeutendste Geologe seiner Zeit aber auch sein treuester Schüler.
Innerhalb des folgenschweren Jahres 1822 bricht Leopold von Buch mit
Pferd und Karosse zweimal nach Predazzo auf, um verzweifelt eine andere
Entstehungsmöglichkeit der sonderbaren Lagerungsverhältnisse im Fassatal
zu finden. Zuerst klammert er sich an die Idee, dass ein riesiger
Felssturz der Auslöser der verkehrten Schichtverhältnisse sein könnte,
muss aber erkennen, dass der Granit, der später als „Monzonit“ bekannt
wird, auf das darunter liegende Kalkgestein direkt aufplombiert worden
war. Auf seiner zweiten Reise versucht er über fünf Monate lang, eine
Lösung seines Problems zu finden. Und findet sie doch nicht. Verzweifelt
weiht er in Freiberg den Kaiser der deutschen Naturgelehrten in das
Dilemma ein: Alexander von Humboldt. Dieser folgt seinem Ruf. Eine
letzte Gelegenheit, um das unvermeidliche Ende einer Theorie abzuwenden.
Auch Alexander von Humboldt findet keine Deutungsweise für diese
Schichten rund um Predazzo und ignoriert sie deshalb einfach. Trotzdem:
In einem umfangreichen Schreiben Leopold von Buchs an Alexander von
Humboldt mit dem Titel „Geognostisches Gemälde von Südtirol“ erkennt
dieser die Wichtigkeit der geologischen Verhältnisse der Dolomiten:
„Diese Gründe sind es, welche mich bewegen, Tirol als den Schlüssel zur
Theorie der Alpen anzusehen, ein Schlüssel, ohne den man die wahrhafte
Zusammensetzung dieser Berge nur sehr unvollkommen einzusehen vermag.“
Durch die eigenartigen Schichtverhältnisse in Predazzo vermutet Leopold
von Buch, dass sich hier eine Erklärung über die Entstehung der Alpen
finden ließe. Aber das sollte sich wiederum nicht in dieser Weise
bewahrheiten. In einem Punkt gibt ihm aber die spätere Entwicklung
recht: Die Dolomiten sind zu einem der am besten erforschten Gebirge
weltweit geworden.
Die größten Impulse sollten alsbald von England aus gehen. 1837 gibt der
Murray-Verlag in London „Murrays Handbook Southern Germany“, das auch
das Gebiet der Dolomiten mit einbezieht, heraus. Ziel des Buches ist es,
der immer größer werdenden Schicht von Reisenden die Landschaften, deren
Leute und Kulturen zu erklären. In bisher noch nie gekannter
unglaublicher und enthusiastischer Wortwahl beschreibt der Autor seine
Reisen in die Dolomiten. „Sie sind anders als all die Berge der Alpen.
Sie ziehen die Aufmerksamkeit der Reisenden durch ihre Einzigartigkeit,
ihre eigenartigen Formen, mit ihren bizarren, nackten und zerrissenen
Felsspitzen, Zinnen und Gipfeln auf sich. Einige erheben sich wie
Obelisken, andere wieder wie spitze Türme; dann gibt es wieder gezähnte
Felsen, dem Gebiss eines Alligators gleich. Wände viele tausend Fuß hoch
umrahmen enge Täler.“ Die Wortgewalt des in Vergessenheit geratenen
Autors wird zur Legende. Seine Beschreibungen begeistern ein riesiges
Publikum und bilden die Basis für das Interesse vieler Neugieriger. Es
ist hier schon von „Dolomit-Bergen“ die Rede, welche auf einer Zeichnung
dargestellt werden.
Es dauert nicht lange da bereisen zwischen 1861 und 1863 die beiden
wohlhabenden Engländer Josiah Gilbert und George Cheetham Churchill
diese Gegend und veröffentlichen in London, überwältigt von der
Schönheit dieser Landschaft ein Buch mit dem Titel „The Dolomite
Mountains“. In blumigen Worten beschreiben die beiden Engländer die
majestätische Landschaft mit ihren eindrucksvollen Berggipfeln und
markanten Zinnen. Gilbert versieht als gelernter Maler das Buch mit
einer Fülle von Zeichnungen, während Churchill sein Fachwissen
einbringt. Und gerade die intensive Beschäftigung mit der Landschaft,
den Leuten, aber auch deren Kultur und der Naturwunder sollte den Namen
„Dolomiten“ tief im Verständnis der Leser einprägen. Gilbert und
Churchill sind es, die dem Namen „Dolomiten“ für die ganze Gebirgsgruppe
vom Pustertal übers Eisacktal bis nach Trient und quer durch die
Valsugana endgültig zum Durchbruch verhelfen.
Aus:
Marco Avanzini - Michael Wachtler
Reisen in die Urzeit
Volkmar Stingl – Michael Wachtler
Dolomiten das Werden einer Landschaft
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