Die Besteigung der Dolomiten-Berge

Die Dolomiten­gipfel werden erobert

Erst nachdem die Dolomiten kreuz und quer durchforscht worden waren, Botaniker, Geologen, Mineralogen und andere Wissenschaftler die Berge auf der Suche nach neuen Forschungsergebnissen durchwühlt hatten, begann man, sich neue Ziele zu setzen. Und diese lagen erstaunlicherweise in der bewussten Besteigung der Gipfel und später sogar in der Wahl neuer und immer bizarrer wirkender Routen.

Wissenswertes um Dolomythos


Zwar waren schon seit Jahrtausenden Jäger und Sammler bis in die höchsten Felsregionen vorgerückt, hatten auch manchen Gipfel unabsichtlich bestiegen, doch nun beginnt dies zu einem Wettrennen auszuarten. Es kommt wie aus heiterem Himmel zu einem Kampf um die Gipfel der Dolomiten, bei dem Missverständnisse und Tragödien genauso wenig fehlen wie Egoismen und Niedertracht. Vieles muss in diesem Zug umgeschrieben werden, vieles dürfte anders abgelaufen sein, als es uns geschildert wird. „Wer schreibt, macht Geschichte“ und nicht wenige Male kann derjenige auch Geschichte verfälschen.
Die Abenteuer des Kampfes um die Gipfel der Dolomiten beginnen sicher nicht mit John Ball und seiner Erstbesteigung des Pelmo.

Der Ire Ball gehört von seiner urtümlichsten Leidenschaft her noch zum Forschertypen, wie andere vor ihm auch. Er verfolgt genauso die ausgesprochene Liebe zu den Pflanzen und Blumen, die ihn auf die Berge treibt. Und selbst als er als vermeintlich erster auf dem Gipfel des Pelmo steht, widmet er weniger Aufmerksamkeit seiner ersten bewussten Erstbesteigung, sondern den Pflanzen in der Gipfelregion.

Ein anderer Botaniker und Mineraloge machte es ihm schon fünf Jahrzehnte früher vor, und auch dieser erwähnte zwar kurz und stolz seinen Gipfelsieg, mehr noch rühmt man ihn aber wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen. In den Jahren 1791 und 1794, zieht es den damals wegen seiner botanischen und mineralogischen Kenntnisse berühmt gewordenen Klagenfurter Jesuitenpater Franz von Wulfen in die Pragser Berge. Er besteigt den Lungkofel, den Dürrenstein und schreibt sogar, dass er „die Geisl, den höchsten Berg der Alpen von Prags erreicht hätte …“ Dies allein hätte ausgereicht, ihn zum Pionier des Dolomitenbergsteigens zu küren, und ihn gleichzeitig in das Ehrenbuch des alpinen Bergsteigens eingehen zu lassen, handelt es sich doch bei dieser „Geisl“ um einen der am schwierigsten zu besteigenden Dolomitengipfel. Nicht, dass es für die damalige Zeit mit den damaligen Mitteln unmöglich gewesen wäre. Mochte zwar der 1728 in Belgrad geborene Geistliche im Jahr 1794 schon 66 Jahre alt gewesen sein, so brauchte man sich um seine Rüstigkeit keine Sorgen zu machen. Sollte er doch fünf Jahre später, im Jahr 1799, und das ist erwiesen, sogar den Versuch gewagt haben, Österreichs höchsten Berg, den Großglockner, zu besteigen. Und dies mit allerhöchstem göttlichem Segen. Mit dabei war damals kein Geringerer als Kardinal Salm-Reifferscheidt sowie eine Fülle anderer Bischöfe und natürlich Koryphäen aus vielen naturwissenschaftlichen Bereichen. Sie scheitern zwar auch an diesem Berg, vielleicht beschützt durch Gottes Hand, lernen aber eine Menge über das Bergsteigen im Hochgebirge.

Es sollten nur wenige Jahre vergehen, bis es zu einem erneuten dokumentierten Versuch der Besteigung eines Dolomitengipfels kommt. Und zwar am 2. August 1802: An diesem Tag setzt die Geistlichkeit zum Sturm auf die Marmolata, die Königin der Dolomiten, an. Don Giovanni Costadedòi, der Dorfpfarrer von Ornella in Buchenstein, war schon vorher wiederholt weit hinaufgestiegen und hatte nun auch seine Mitgeistlichen begeistern können. Der Weg sei nicht allzu schwer, die Aussicht zu Gott so nahe wie nirgends. Auch Don Giuseppe Terza aus Wengen im Gadertal und Don Tommaso Pezzei sind Bergbegeisterte. Sie wissen nichts von der 1786 stattgefundenen Erstbesteigung des Mont Blanc und trotzdem wollen sie das Reich der Götter betreten. Nicht zum Ruhm, nicht um zu sagen, sie wären als erste hier oben gewesen, sondern einzig und allein, weil es ihnen gefiel. Am Fedaja-Pass nächtigen sie in einer Almhütte und beginnen frühmorgens am nächsten Tag mit dem Aufstieg. Mit dabei ist ein Chirurg, Doktor Hauser und der bischöfliche Richter Peristi, eine hoch angesehene Truppe auf jeden Fall. Ohne Zwischenfall erreichen sie eine Spitze, nicht den Gipfel, einen Vorgipfel nur 50 Meter unterhalb der Spitze gelegen, aber immerhin. Doch dann, beim Abstieg, geschieht die Tragödie: Don Giuseppe Terza will noch einmal nach ein paar Gämsen Ausschau halten. Er geht an ein paar Gletscherspalten entlang und kehrt nie mehr zurück. Was genau geschah, hat man nie in Erfahrung bringen können.

Im Pfarrarchiv von Buchenstein liegt heute noch verstaubt und versteckt das Dokument des traurigen Schicksals des Pfarrers Don Giuseppe Terza: „… und wie er zu den Gletschern kam, setzte er gegen die warnenden Ratschläge seiner Kameraden, welche zum Rückzug rüsteten, seinen Weg alleine fort. Er ging, die mörderischen Gefahren nicht achtend, dahin, und wurde, trotz angestrengtester Suche seiner Kameraden, weder lebendig noch tot mehr gefunden. Ruhe in Frieden! Ziehe aber jeder Lehre und Ratschlag aus diesem Unglück und besonders ihr Pfarrer allerseits bleibt daheim, zum Lesen, zum Studieren und zum Beten …“ Noch gehören die Berge den Göttern und sie zürnen, wenn man sie herausfordert. Don Giuseppe Terza bleibt für immer verschollen, und dieses Unglück dürfte ausgereicht haben, um für viele Jahrzehnte der Bevölkerung die Lust auf eine Besteigung der Berge zu nehmen.

In dieser Zeit gehen Forschung und Bergsteigen eng vereint Hand in Hand. Ein Beispiel dafür ist der Fassaner Arzt Francesco Facchini. Am 24. Oktober 1788 wird er in Forno im Fleimstal geboren. In München studiert er Philosophie, in Pavia und Padua Medizin. Dann kehrt er wieder in seine Heimat zurück. Im Fassatal lässt er sich als Arzt nieder, während er sich in seiner Freizeit vollkommen den Pflanzen und dem Bergwandern widmet. 1837 gibt er aus Liebe zu seiner Leidenschaft den Arztberuf auf. Eingegangen ist Francesco Facchini aber als Erstbeschreiber einer Fülle von Pflanzen aus den Dolomiten. Darunter auch die Dolomiten-Hauswurz (Sempervivum dolomiticum), eine der Symbolblumen der Dolomiten. In der Gegend von Soraga am Fuße der Marmolata sammelt er diese Pflanze zum ersten Mal. 1850 beschreibt er sie. 1852 stirbt er im Fassatal und wird dort begraben. Seine „Flora Tiroliae Cisalpinae“ erscheint nach seinem Tod. Es ist der Tiroler Botaniker Franz von Haussmann, der sie herausgibt. Als erste Zusammenfassung der Pflanzen Tirols. 2100 Pflanzen werden beschrieben, schon 80 % der heute bekannten Arten.

Aber selbst John Balls bedeutendste bergsteigerische Leistung in den Dolomiten, die Erstbesteigung des Pelmo, womit man eigenartigerweise den Beginn des Alpinismus in den Dolomiten bezeugen will, ist nicht über jeden Zweifel erhaben und das aus mehrerlei Hinsicht. Einmal durch die Beschreibungen eines der Gegend von Agordo wirkenden Bergrates, Wilhelm Fuchs mit Namen, einem Ungarn, der schon 1844 in einem von ihm herausgegebenen geologischen Werk mit dem Titel „Die Venetianer Alpen, ein Beitrag zur Kenntnis der Hochgebirge“ nicht nur die Höhe des Monte Pelmo exakt mit 3.162,8 m vermisst, die geologischen Schichten bis zur Gipfelregion einträgt, und dabei feststellt, dass der letzte Teil aus Muschelschichten bestehe. Aber auch seine Leidenschaft für die Blumen führt ihn an anderer Stelle zur Feststellung, dass einige Steinbrecharten bis auf 9000 Fuß (2923 m) wachsen. „Höher fand ich keine Blütenpflanzen mehr.“ Wo sollte er diese Höhe in den Dolomiten auch erreicht haben. Bergrat Fuchs ist kein langes Leben beschieden. Er nimmt Jahre später noch an einem Aufstand gegen die Unterdrückungen der Minderheiten im Habsburgerreich teil, flüchtet nach Serbien, wo er 1849 unter mysteriösen Umständen stirbt.
Aber damit noch nicht genug. Ein verwegener Jäger, Belli Battista Vecchio behauptete noch vor 1856, er sei schon am Gipfel des Pelmo gestanden und habe auf seinem Weg die Reste eines Ofenrohrs und ein menschliches Skelett gefunden.

Das ist die Situation bis zum 19. September 1857, als John Ball um drei Uhr morgens von Borca di Cadore mit dem einzigen Ziel aufbricht, den Monte Pelmo zu besteigen. Balls Leben verläuft vielfältig. Am 28. August 1818 wird er in wohlhabender Familie in Dublin geboren. Mit neun Jahren sieht er schon die Schweizer Berge und bleibt sein ganzes Leben lang von ihnen fasziniert. Dann verschlägt es ihn in die Hohen Tauern, um sich ab 1854 seiner großen Leidenschaft, der Pflanzenkunde, zu widmen. Dabei kommt er nach Bassano del Grappa, er besucht dort den botanischen Garten von Alberto Parolini, gleichfalls ein hoch stehender, wohlhabender und allgemein interessierter Gelehrter. Er findet dort nicht nur Blumen, sondern auch seine große Liebe, Elisa Parolini, die Tochter des Hausherrn. „Jener Mann, mit welchem ich meine Schicksal verbinde, verdient sicher all meinen Respekt und meine Zuneigung; … aber er trägt ein grauenvolle Krankheit in sich: Den Hang zur Ferne.“ Dies schreibt Elisa gedankenvoll vor der Hochzeit. Denn John ist ein Rastloser. In Irland wird er Abgeordneter, dann durchreist er halb Europa, um seinen botanischen Studien zu frönen. Mitte September bricht er dann von Bassano del Grappa aus auf, um in den Dolomiten den Antelao oder die Marmolata zu erwandern. Es wird der Pelmo. Noch gehört der ganze Veneto zum österreichischen Kaiserreich.

Zusammen mit einem Begleiter, er soll als unbekannter Gämsenjäger in die Geschichte eingehen, denn John Ball nennt seinen Namen nicht, brechen sie dann auf. Aber nicht nur das: Ball ergießt sich in seinen Beschreibungen nur so in Erniedrigungen für den armen Einheimischen, der in den Augen von Ball alles versucht, um ihm seinen Gipfelsturm unnötig zu erschweren. Im Kampf gegen den Berg und dem störrischen Führer gelingt es dem noblen Herrn aus England trotzdem, sein Ziel zu erreichen. „Bald kamen wir an einen steil abfallenden Felsen, wo sich der Führer erhoffte, dass dieser mich zur Umkehr zwingen würde … An einem kleinen Hochplateau sagte mir der Führer Freude strahlend, dass wir nun auf dem höchsten Punkt seien. Als ich ihm entgegnete, dass die Erhebung auf der anderen Seite der Gipfel sei, wandte der Führer ein, dass überhaupt kein Grund bestünde, noch höher zu gehen, weil dies aufgrund der Felsbeschaffenheit unmöglich sei.“ Der Gämsenjäger will nicht weiter, er will den Iren überzeugen, wieder mit ihm hinunterzugehen. Doch John Ball lässt sich nicht beirren. „Dann, ein Paar Kletterminuten weiter, ging der Führer an mir vorbei, um die Lage zu begutachten. Er trat mir in den Weg und behauptete felsenfest, dass ein Weitergehen unmöglich sei. … Ich aber prüfte die Möglichkeit einer Ersteigung, doch der Führer flehte mich an, nicht mehr weiterzugehen, weil hier die »Croda morta« der Felsen des Todes begänne. … Trotz der fortwährenden Proteste ging ich weiter, und bewegte mich allmählich dem Gipfel zu. Mein Führer aber, blieb zurück. … Um ein Uhr stand ich auf dem Gipfel des Pelmo.“ So beschreibt es John Ball in seinem Tagebuch. Ein Jahr später, am 31. März 1858, wird er zum ersten Präsidenten des neu gegründeten „Alpine Club“ gewählt, dem ersten Bergsteigerverein der Welt, genauso im März kommt sein erstes Kind zur Welt. Es folgt noch ein zweites. dann stirbt seine italienische Frau. John Ball heiratet wieder, diesmal eine noble Engländerin, 21 Jahre jünger als er. Nun reist er weltweit, nach Südamerika, in die Karibik, 1889, er ist 71 Jahre alt, erkrankt er im schweizerischen Engadin schwer, fährt noch in seine Heimat zurück, und stirbt dort am 21. Oktober 1889.

John Ball markiert so das Ende einer Epoche. Den Übergang vom Forscher zum reinen Bergsteiger, um der Ersteigung eines Berges und des Ruhmes willen. Denn wenige Jahre später, im Jahr 1862 sollte schon ein nächster Pionier folgen, der zwar noch ein wenig wissenschaftliches Denken in sich trägt, dessen Hauptaugenmerk aber der puren Erstbesteigung der Dolomitengipfel gilt: Paul Grohmann. Nicht viele Jahre später würde man ihn den “Dolomitenkönig” nennen. Auch er steht anfangs noch der Forschungsseite nahe. Zusammen mit zwei anderen Studenten der Rechtswissenschaften, Guido von Sommaruga und Edmund von Mojsisovics, der später noch als bahnbrechender Paläontologe und Geologe in den Dolomiten die Entstehungsgeschichte umschreiben sollte, gründen sie im Jahr 1862 zusammen den “Österreichischen Alpenverein” in Anlehnung an den Jahre zuvor gegründeten Alpine Club.

Schon von Anfang an steht die Verbreitung der Schönheiten des Berges im Vordergrund. Grohmann und Mojsiovics werkeln alsbald als Schriftleiter der „Mitteilungen“, einer Zeitschrift, die Gesinnungsgenossen eine literarische Plattform geben sollte, um ihre Sichtweise der Berge darzustellen. Und dazu zählt in ihren Augen alles, was dazu dienlich sein sollte, das Wissen um die Bergwelt zu verbreiten: die Ersteigung der Gipfel, genauso wie die naturwissenschaftlichen Forschungen. Im August 1862 kommt Paul Grohmann zum ersten Mal in die Dolomiten und zwar nach Cortina d’Ampezzo. „Als ich von den Spitzen und Höhen der Tauern, die ich bis dahin durchwandert hatte, eine neue Bergwelt von märchenhaften Formen im Süden erblickte, über die auch das beste Buch nur geringe Aufschlüsse erteilte, eine Bergwelt, über die sich in vielen Beziehungen noch der Schleier des Geheimnisses breitete, beschloss ich, in die Dolomiten zu ziehen und dort zu arbeiten.“

1838 kommt Paul Grohmann in Wien als Sohn wohlhabender Eltern, welche ihm die allerbeste Erziehung zukommen ließen, auf die Welt. Schon mit fünfzehn Jahren reist er durch Europa, bald gehören die Berge zu seiner großen Leidenschaft. Im August 1862 bleibt er nur wenige Tage in den Dolomiten, was ihn aber nicht hindern sollte, schon am Tag nach seiner Ankunft einen der ersten „Bergführer“ Pellegrino Pellegrini (1820-1891) aus Rocca Pietore aufzusuchen. Er wolle den Gipfel der Marmolata erreichen. Zum ersten Mal erleben wir mit Paul Grohmann eine Person, der es darum geht, mit allen Mitteln seinen Namen in das Buch der Erstbesteigungen zu schreiben, und das mit einer gehörigen Portion Arroganz. Zwar kommt er in diesem Jahr nur zur Marmolata di Rocca, doch das sollte ihn nicht davon abhalten, das nächste Jahr mit noch mehr Ehrgeiz in Cortina d’Ampezzo zu erscheinen. Er hat unbegrenztes Vertrauen zum alten Francesco Lacedelli «Checco de Melères» gefasst. Schon 1809 hatte dieser als 13-Jähriger gegen die napoleonischen Truppen gekämpft; er steht im 67. Lebensjahr, unerschütterlich wie eine Festung, konditionell hervorragend und mit einem ausgezeichneten Orientierungssinn ausgestattet. Am 29. August 1863 stehen die beiden auf der Tofana di Mezzo, dann kommt der Antelao an die Reihe. Nachdem Grohmann zu Ohren gekommen war, dass schon 1850 ein gewisser Matteo Ossi den Antelao bestiegen hätte, wollte er den Gipfelsieg mit ihm wagen. Und was nun in Grohmanns 1877 erschienen Buch „Wanderungen durch die Dolomiten“ als Beschreibung folgt, drückt den Zeitgeist und die Ruhmsucht der damaligen Zeit aus. „Matteo Ossi erklärte sich bereit, mitzugehen, kam aber irgendwann ins Sinnieren, suchte Ausreden, erklärte sich verstiegen zu haben – kurzum er fand den Weg nicht mehr. (…) Aber meine tapferen Ampezzaner Führer fanden sofort den richtigen Weg. (…) Wir betraten um 11.45 den Gipfel des Antelao, und ich glaube sagen zu dürfen, dass wir auf einer noch nicht betretenen Spitze standen.“ Der Antelao gehörte Paul Grohmann, selbst die Erstbesteigung des Monte Pelmo beginnt er bald John Ball abzustreiten.

Im Jahr 1864 ist er voll Leidenschaft wieder in den Dolomiten, zur Erstbesteigung der Tofana di Rozes (3.225 m). Am 29. August 1864 schließen sich spontan zwei junge Cortineser an: Angelo Dimai und Santo Siorpaes. Das Fieber der Berge hat auch sie erfasst. Am 16. September 1864 steht Paul Grohmann auf dem Sorapis. (3.205 m) Dann will sich die Marmolata holen und damit den höchsten Gipfel der Dolomiten. Den Grat bilden mehrere Gipfel, in der Höhe von West nach Ost abnehmend: Punta Penia (3.343 m), Punta Rocca (3.309 m), Punta Ombretta (3.230 m), Monte Serauta (3.069 m) und Pizzo Serauta (3.035 m). Noch 1860 war John Ball zusammen mit dem Bergführer Tairraz nur bis zur unwesentlich niedrigeren Punta Rocca (3.309 m) gekommen. Am 28. September 1864 sollte es endlich so weit sein. Zusammen mit den beiden bewährten Ampezzaner Bergführern Angelo und Fulgenzio Dimai, mit 45 Jahren nicht mehr die jüngsten, erreichen sie mit Paul Grohmann, 26 Jahr alt, den Hauptgipfel der Königin aller Dolomitenberge.
Auch in den nächsten Jahren kommen noch eine Fülle von Erstbesteigungen hinzu: Es fallen der Monte Cristallo, und der Boè, dann wendet sich Paul Grohmann den Bergen um Gröden und Sexten zu. Das Jahr 1869 ist sein erfolgreichstes Jahr: Die Dreischusterspitze in den Sextner Dolomiten besteigt er mit Franz Innerkofler und Peter Salcher; mit diesen beiden versucht er auch, den König der Grödner Berge, den Langkofel, zu bezwingen. Der Versuch gelingt, Paul Grohmann ist der unumschränkter Kletterkönig der Dolomiten. Am 21. August 1869 fällt auch der markanteste Gipfel der Dolomiten: die Große Zinne. Paul Grohmann veröffentlicht Beschreibungen und hält Vorträge, hilft mit immensem Fleiß, den Alpenverein aufzubauen, macht das Bergsteigen in seinem Heimatland populär, doch die Macht des Schicksals sollte ihn 1873 ereilen. Der wohlhabende Paul Grohmann wird über Nacht arm; durch einen Finanzkrach verliert er sein ganzes Vermögen und wird zum lebenslangen Schuldner. Er ist zu alt, um einen neuen Beruf zu ergreifen, zu stolz, um sich helfen zu lassen. Was er noch entbehren kann, veräußert er, dann zieht er sich in Wien in sein ärmliches Zimmer mit dürftiger Einrichtung zurück und arbeitet im Stillen an dem weiter, was ihm lieb und teuer ist: an einem Buch über die Berge der Dolomiten.

Paul Grohmann bleibt nicht allein. Die Briten verfügen immer noch über eine hervorragend geschulte Bergsteiger-Elite. Am 20. Juni 1870 gelingt E. R. Whitwell sowie dem Ampezzaner Bergführer Santo Siorpaes und dem Schweizer Christian Lauener die Erstbesteigung der Hohen Geisel (3.148 m) nachdem Paul Grohmann knapp unterhalb des Gipfels gescheitert war. Zuvor hatten sie schon den Piz Popena im Cristallomassiv (3152 m) und das Matterhorn der Dolomiten, den Cimone della Pala (3.184 m), bezwungen, alle schwierige Dreitausender, eine beachtliche Leistung. Innerhalb von zwanzig Jahren hatten sich Österreicher und Engländer fast alle Dolomitengipfel geholt, oder teilten jedenfalls ihre historischen Siege in den einschlägigen Alpenvereinsbüchern mit. Den Einheimischen blieben die Brosamen. Um 1860 steht der Agordiner Bergsteiger Simone de Silvestro als erster Mensch bewusst auf der Civetta.

Allerdings lauerten in den Sextner Dolomiten noch zwei markante, unbestiegene Gipfel. Die Kleine Zinne und die Westliche Zinne. Der Sextner Bergführer Michl Innerkofler gehört zur Kletterelite der damaligen Zeit. Am 31. August 1879 fällt die Westliche Zinne. Michl Innerkofler und Georg Ploner sollten als erste den Gipfel bezwingen. 1880 holt sich Michl Innerkofler dann im Alleingang die Grohmannspitze im Langkofelgebiet, eine extrem schwierige Klettertour. Im selben Jahr, am 2. Juli 1880 hatte der Bozner Kletterer Johann Santner genau auf die gleiche Art und Weise im Schlerngebiet einen Zacken bestiegen, der hinfort ihm zu Ehren benannt wurde: Die Santnerspitze. Am 25. Juli 1881, um 8.55 Uhr, stehen Michl Innerkofler und sein Bruder Hans als erste Menschen auf der Kleinen Zinne. Mit einem IV. Grad eine für die damalige Zeit unerhörte Kletterleistung.

Der Großteil der Dolomitengipfel ist somit erstbestiegen, immer mehr Menschen wälzen sich aus den unterschiedlichsten Gründen in die Täler der Dolomiten. Was nun folgt, ist der dritte Teil der Kletterkünste. Nach einem Ineinandergehen von Forschung und Bergsteigen bis 1850, der Zeit der Erstbesteigungen bis 1880 sollte nun ein Rennen um die ausgesetztesten Varianten dieser Berge einsetzen. Und hier boten die Dolomiten wohl weltweit einzigartige Voraussetzungen. 1879 kommt der Wiener Emil Zsigmondy nach Sexten und sieht die markanten Gipfel. „Gar viele unter ihnen sind wie Nadeln gebaut und keines Menschen Fuß wird sie je betreten, wenn nicht künstliche Hilfsmittel, wie Eisenstifte oder Leitern, dazu verwendet werden,“ schreibt er enthusiastisch. Es beginnt das Klettern um des Kletterns Willen, das Spiel über dem Abgrund, jenes Bergsteigen, wo sich die Neuerer erst einen Sinn schaffen und diesen der großen Masse erst wichtig und abenteuerlich machen müssen. Zsigmondy gelingen Pioniertaten in den Dolomiten, er macht das Extremklettern bekannt, doch ist ihm kein allzu langes Leben vergönnt, 1885 stürzt er als 24-Jähriger in den französischen Alpen in den Tod. Bei der Grabrede zieht man Bilanz: „Es ereilte ihn das Schicksal, wie den Krieger im Gewühle der Schlacht.“ Der Kampf um die Berge wird zum Krieg, zur Überlebensfrage. Die Grabrede für Zsigmondy wird zu einem kriegerischen Appell: „Ihm war das Alpenwandern ein Herzensbedürfnis und er hat damit ein Stück jener Kulturarbeit geleistet, an welcher die Menschheit in hundertfach verschiedener Weise schon seit Jahrtausenden tätig ist und so lange tätig sein wird, bis dereinst der Letzte des Menschengeschlechtes seinen Odem aushaucht.“ Das Sterben am Berg wird allmählich Teil der Bergkultur.

Am 20. August 1888 stürzt der Sextner Michl Innerkofler am Cristallo, den er an die dreihundert Mal bestiegen hatte, in den Tod. „Michl Innerkofler gelang es nicht mehr, die doppelte Last im Sturz aufzuhalten, so dass er mit solcher Wucht an den Rand der Spalte fiel, dass er sich den Kopf zerschlug und lautlos in die Tiefe sank“, schreibt ein Jahr später die Alpenvereinszeitschrift. Vom Gipfel aus hatte der Cortineser Bergführer Pietro Dimai das Unglück mitverfolgen können. „Wir hörten sofort die Hilferufe der Verunglückten und auf meine Frage, wo der Michel sei, tönte die jammernde Antwort herauf: Er ist auch hier. Schnell war der Strick hinuntergelassen und der Erste, der heraufgezogen wurde, war der bereits leblose Michael Innerkofler. Er war furchtbar entstellt: Die linke Seite des Kopfes, auf der der Unglückliche auffiel, ist vollständig zertrümmert, die Augen und die Zähne ausgeschlagen, sodass der Kopf völlig unkenntlich geworden ist.“ Als Josef Innerkofler, einem der großen der damaligen Bergführergilde, die Nachricht vom Tode Michael Innerkoflers zugetragen wird, soll er vom Stubentisch aufgesprungen sein und stolz ausgerufen haben „Nun bin ich der Dolomitenkönig!“ Es ist ein frevelhafter Ausspruch, denn gerade vier Jahre später stürzt auch er mit einem Alpinisten an der Fünffingerspitze in den Grödner Dolomiten tödlich ab.

Noch kürzer ist das Leben des Münchners Georg Winkler. Mit 17 Jahren erobert er im Alleingang die Cima della Madonna in der Palagruppe, er durchklettert mit höchstem Risiko jene mit den damaligen Techniken gerade machbaren Grate der Dolomiten, bezwingt am 17. September 1887 im Alleingang den östlichsten der drei südlichen Vajolet-Türme – Winklerturm wird er seither genannt – um ein Jahr später, gerade neunzehnjährig am Walliser Weißhorn in der Schweiz bei einem Alleingang unter eine Lawine zu geraten. „Die Gefahr und die unendliche Großartigkeit des Hochgebirges in ihrer Vereinigung sind es, die uns dämonisch anlocken“ hatte er kurz vor seinem Tode niedergeschrieben. 68 Jahre später sollte sein typischer Lederhut, die Bergschuhe und ein Stück Hanfseil aus diesem Eise ausapern. Die Liste der Todessüchtigen ist noch lange nicht zu Ende. Viktor Wolf von Glanwell kommt als fünfzehnjähriger in die Pragser Dolomiten, mit neunzehn Jahren veröffentlicht der Frühreife schon seinen ersten Kletterführer, 1902 schreibt er mit Günther Freiherr von Saar Alpingeschichte. Sie bezwingen unter den Augen der Glück strahlenden und bewundernden Blicken ihrer jugendlichen Frauen einen der schroffsten und für unbezwingbaren gehaltenen Felstürme der Friulanischen Dolomiten, den 2.171 m hohen Campanile di Val Montanaia, nachdem die beiden Triestiner Kletterer Napoloene Cozzi und Alberto Zanutti Tage zuvor knapp unterhalb des Gipfels gescheitert waren. Drei Jahre später beendet eine Steinlawine das Leben des 34-jährigen Glanwell. Am 12. August 1897 hinterlegt der beste Trientner Kletterer Carlo Garbari im Gipfelbereich der Guglia di Brenta alles und alle verwünschend einen Zettel: „Wer diese Karte erreicht, dem wünsche ich mehr Glück!“ Zu oft war er an dieser kühnen Felsnadel schon gescheitert. Und er glaubte auch nicht mehr, dass dieser dreihundert Meter hohe freistehende Obelisk, der „Turm aller Türme“ jemals fallen könnte. Grund genug für die beiden Innsbrucker Bergsteiger Otto Ampferer und Karl Berger, einen Angriff zu wagen. Sie schaffen das Unmögliche und bezwingen die Guglia.

Einem weiteren Dolomitenbergsteiger ist es genauso wenig vergönnt, ein langes Leben zu führen: Paul Preuß. „Wenn man irgendwo nicht hinunter kann, soll man auch nicht hinauf!“ Der Mensch als Maßstab aller Dinge, er lehnt jede technischen Hilfsmittel ab. „Da pendeln die Leute an glatten Wänden hin und her, ganze Berge werden mit Seilmanövern bestiegen. Und doch lehrt die Erfahrung, dass viele dieser Stellen frei zu klettern sind; sind sie es nicht, dann soll man sie doch lieber gleich stehen lassen“, schreibt er in der Deutschen Alpenzeitung im Jahr 1911. 27-jährig stürzt auch Paul Preuß beim Bergsteigen in den Tod. Das Ersteigen der Berge lockt schlussendlich auch deshalb, weil es gefährlich ist.

Zinne um Zinne, Zacke um Zacke findet das Wohlgefallen der Kletterbegeisterten, der Einheimischen wie der Fremden. Hatten sie früher noch all ihre Energie dazu verwenden müssen, um sich auf den kargen Höfen überhaupt zu ernähren, bringt ihnen das Geld der zumeist reichen fremden Abenteurer Wohlstand und Neid. Die Innerkoflers in Sexten, die Dimais, Siorpaes, Angelo Dibona in Cortina, Tita Piaz und Luigi Rizzi im Fassatal haben sich vom Bauernstand entfernt. Die betuchten Gäste kaufen sie mit ihrem Geld und ködern ihnen die Gipfel ab, für sich selbst zum ewigen Ruhme.

Im Sommer 1900 durchsteigt der aus Pera im Fassatal stammende bettelarme Tita Piaz, nachdem ihm der berühmte Hotelier Theodor Christomannos erst das dringend benötigte Geld für ein paar Bergschuhe geschenkt hatte, einen vertikalen Riss in der Wand der Punta Emma. Mehrmals riskiert er sein Leben, aber ab diesem Zeitpunkt wird er nur mehr „Teufel der Dolomiten“ genannt. 1915 wird Tita Piaz von den Österreichern als italienfreundlicher „Irredentist“ verhaftet, 1920 wird er unter den neuen italienischen Machthabern Bürgermeister, 1930 unter dem faschistischen Regime wegen subversiver Aufwiegelung wieder verhaftet, frei gelassen, und nochmals –nunmehr von der deutschnationalen Gestapo im Jahr 1944- ein weiteres Mal ins Gefängnis gesteckt. Der extreme Kletterer, der Aufwiegler und Unbezähmbare stirbt nicht am Berg, 1948 stürzt er sich mit dem Fahrrad zu Tode. Die Drei Zinnen, die Civetta, die Pale di San Martino, die Südwand der Marmolata. Es ist der Stoff, aus dem die Träume sind. Von den eigenen Unternehmungen konnte man allen Menschen mitteilen, übertreiben, flunkern. War der berühmte italienische Kletterer, Fotograf, Schriftsteller Guido Rey der erste Durchsteiger der berüchtigten Marmolata-Südwand? Ist er der Erfinder des „akrobatischen Alpinismus“, der seine „große Schlacht“ dort schlug? Jener „Gipfel, der immer höher und riesenhafter zu werden schien“ und, nachdem sie ihn erreicht hatten, beschreibt, dass sie nun „dieser Hölle entstiegen“ seien. Tita Piaz begleitete ihn, und andere auch, doch waren diese nicht schon Tage zuvor die Wand durchgeklettert?

Quellen:
Michael Wachtler: Die Geschichte der Dolomiten